Bindungsangst erkennen und auflösen

Blog ALH Bindungsangst

von Cristina Sandner

So gut wie jeder Mensch sehnt sich nach einer erfüllten Beziehung. Doch manchmal stehen unsere eigenen Bindungsängste oder die unseres Partners im Weg. Die gute Nachricht: Wer seinen Mustern erstmal auf die Schliche kommt, kann Bindungsangst überwinden.

Die Angst vor Bindung – was ist das eigentlich?

Das Schreckgespenst Bindungsangst wird oft dafür verantwortlich gemacht, dass Beziehungen einen unschönen Lauf nehmen oder gar nicht erst zustande kommen. Bei Bindungsangst handelt es sich um eine Angst, sich auf eine tiefgehende, ernstgemeinte und exklusive Partnerschaft einzulassen. Viele Betroffene wehren sich allerdings dagegen, als bindungsängstlich bezeichnet zu werden: „Bindungsangst? Ich doch nicht! Bis jetzt war einfach noch nicht der Richtige dabei“, heißt es oft. Die Psychologin und Bestsellerautorin Stefanie Stahl, Deutschlands Top-Expertin auf dem Gebiet der Beziehungsängste, sagt, dass Bindungsangst an sich gar nichts Dramatisches sei, es sei lediglich ein Selbstschutzprogramm aus der Kindheit. Betroffene haben sich im Kindesalter – in der Regel – unbewusst einen Schutz aufgebaut, damit sie mit den Eigenarten oder Erwartungen ihrer Eltern besser zu Recht kommen. Zum Beispiel mit einer Mutter, für die das Kind auch gleichzeitig die beste Freundin sein sollte. Oder mit einem stets traurigen Vater, der von seinem Sohn getröstet werden wollte. Oder mit Eltern, die ihre Liebe an Bedingungen geknüpft haben - zum Beispiel: „Sei schön lieb, sonst machst Du Mama traurig”.

Problematisch ist laut Stahl nicht die Angst vor Bindung an sich, sondern der Umgang damit in unseren Beziehungen im Erwachsenenalter. Bindungsängstliche Menschen können nämlich ziemlich harte Strategien entwickelt haben, um mit ihrer Bindungsangst umzugehen. Das heißt, sie können extrem abweisend sein, wenn man ihnen zu nahekommen will. Was wiederum für Frust und Enttäuschung beim Partner sorgen kann. Ans Licht kommt das Problem mit der Bindungsangst, der Angst vor Nähe, oft in Übergangsphasen zu mehr Verbindlichkeit. Zum Beispiel dann, wenn es darum geht zusammenzuziehen, zu heiraten oder einer der beiden Partner sich ein Kind wünscht.

Ein unzertrennliches Paar – Bindungsängste und Verlustängste

In vielen Fällen hat Bindungsangst, Verlustangst zur Ursache. Das heißt, ein Betroffener kann sich nicht richtig binden, weil er große Angst hat, verlassen zu werden. Für solche Menschen scheint es erträglicher zu sein, gar keine oder zumindest keine tiefgehende Beziehung einzugehen, als jemanden zu verlieren, den man richtig geliebt hat. Um die beiden Ängste in Zahlen zu nennen: Bindungsforscher gehen davon aus, dass etwa 20 Prozent der Erwachsenen unter der Angst vor Bindung und rund 25 Prozent an Verlustangst leiden. 

Wie bereits erwähnt, haben viele Menschen mit Bindungsangst von klein auf gelernt, sich an den Bedürfnissen von Mama und Papa zu orientieren, um besser mit ihnen klarzukommen. Sie haben sich also ständig unbewusst gefragt, wie sie sein müssen (oder sein dürfen), um nicht von den Eltern „verlassen“ zu werden. Die Angst, verlassen zu werden, war stets präsent. Betroffene haben schon früh den Glaubenssatz entwickelt, dass sie nur in Sicherheit sind, wenn sie sich anpassen. Sie gehen also davon aus, dass sie ihrer Verlustangst nur durch Überanpassung entgegenwirken können. Viele “Bindungsängstler” mussten also die Erfahrung machen, dass Mutter und Vater keine sicheren Anlaufstationen sind. Die Abhängigkeit von den Eltern nahmen sie deshalb als Bedrohung wahr. Wieder andere wurden von der Liebe der Eltern fast erstickt. Für sie hatten Liebe und Bindung von Anfang an mit einem Gefühl des Eingeengt seins zu tun. Aus diesem Grund gelingt es diesen Menschen später meist nur schwer, sich zu binden – um eine erneute Einengung zu vermeiden.

Die Symptome – Bindungsangst erkennen

Wenn Dir eine oder mehrere der unten geschilderten Szenen bekannt vorkommen, könnte es sein, dass Bindungsangst in Eurer Beziehung ein Thema ist. Die Liste ist jedoch nicht in Stein gemeißelt:

Das Drama um Nähe und Distanz

Gerade wart ihr noch ein Herz und eine Seele und plötzlich zieht sich Dein Partner wie aus dem Nichts zurück? Das könnte ein Zeichen für Bindungsangst sein. Nicht selten kommt es vor, dass der beziehungsängstliche Partner sich nach leidenschaftlichen, zärtlichen Momenten abrupt abwendet – also immer dann, wenn der andere nicht damit rechnet. Das kann sich zum Beispiel durch einen Streit äußern, den er plötzlich beginnt oder durch ein Hineinstürzen in die Arbeit. Dieses Hin und Her zwischen Nähe und Distanz kann den Partner stark verunsichern. Bei anderen Paaren findet der Wechsel zwischen Nähe und Distanz nicht abrupt statt. Hier hält der Partner mit Bindungsangst den Partner, der mehr Nähe braucht, dauerhaft auf Abstand.

Rollenverteilung von Macht und Ohnmacht

Der Bindungsängstliche scheint (unbewusst) die „Macht“ in der Beziehung zu haben. Er bestimmt, wie oben beschrieben, darüber, wann er dem Partner nahe sein will und wann nicht. Je mehr der Nähesuchende nach Zuneigung bettelt, desto eher ergreift der Bindungsängstliche die Flucht und befindet sich so automatisch in der Machtposition. Warum handeln Bindungsängstliche so? Weil sie sich in der Regel durch (vermeintliche) Erwartungen des Partners sofort in die Ecke gedrängt fühlen. Dadurch, dass der Beziehungsängstliche dann alleine und ohne Rücksprache bestimmt, wann Zeit für Nähe ist, übernimmt er die Macht in der Beziehung. Dadurch verursacht er aber bei seinem Partner genau die Ohnmachtsgefühle, die er bei sich selbst durch seinen Rückzug vermeiden möchte. Bindungsängstliche Menschen haben oft auch extreme Schwierigkeiten, sich festzulegen. Somit haben sie oft auch die Macht über die gemeinsame Freizeitgestaltung. Nicht selten sagt der Bindungsängstliche in letzter Minute ein Abendessen ab – oder er nimmt eine Verabredung gar nicht erst an.

Die Liebe kommt, die Liebe geht

Nach einer (oftmals kurzen) Phase der Verliebtheit berichten viele beziehungsängstliche Menschen davon, dass sie den Partner plötzlich nicht mehr richtig lieben oder das Interesse an ihm verloren haben. Sobald sich ein gewisses Maß an Sicherheit eingestellt hat, scheint sich die Liebe zu verabschieden. Das kann verschiedene Gründe haben: Entweder es macht sich eine starke Angst vor Ablehnung breit, sodass die Verlustangst Oberhand gewinnt. Oder es stellt sich ein großer Freiheitsdrang ein. Viele bindungsängstliche Menschen denken nämlich, dass sie sich spätestens jetzt den Wünschen und Erwartungen des anderen anpassen müssen. Die für sie logische Konsequenz lautet, sich nur von den vermeintlichen Erwartungen des Partners entziehen zu können, wenn sie völlig frei – sprich Single – sind. Beim Thema Entlieben spricht Stefanie Stahl von dem sogenannten Schwächen-Zoom, den Bindungsängstliche einsetzen. Ein kleiner Trick unserer Psyche, der in solchen Situationen einsetzt. Bindungsängstliche fokussieren sich (meist unbewusst) auf kleine Makel des anderen und machen diese Unzulänglichkeiten groß. Dadurch fühlen sie sich einerseits selbst größer und mächtiger als ihr Partner, andererseits legitimieren sie so ihr schnell entstandenes Desinteresse am anderen: „Der ist ja gar nicht so toll, der hat eine krumme Nase und macht komische Geräusche beim Kauen!“.

Sexuelle Lustlosigkeit auf der einen, Affären auf der anderen Seite

Weil sexuelle Intimität die größte Nähe überhaupt darstellt, kann sie für jemanden mit Bindungsangst zum Problem werden. Diese Nähe verursacht nämlich Angst vor Abhängigkeit. Betroffene gehen davon aus, dass sie, wenn sie sich – im wahrsten Sinne des Wortes – völlig nackt zeigen, schutzlos ausgeliefert sind und von der Zuneigung des Partners abhängig werden könnten. Außerdem fürchten sie die Zurückweisung des anderen. Mit sexueller Lustlosigkeit innerhalb der Beziehung gehen nicht selten Affären einher. Viele Bindungsängstliche können sich nicht auf nur einen Partner festlegen und machen sich – in ihrer Logik - durch das Hinzukommen eines Dritten, weniger von ihrem eigentlichen Partner abhängig.

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Die Angst vor Bindung überwinden – der Weg in eine erfüllte Partnerschaft

Die Ursache für Bindungsangst liegt meist in der Kindheit. Die gute Nachricht lautet: Man kann daran arbeiten. Schon die Erkenntnis, dass ein Bindungsproblem vorliegt, ebnet den Weg, um sich aus alten Mustern zu lösen und die Angst Schritt für Schritt zu überwinden. Ziel ist es, in Deinem tiefen Inneren zu spüren, dass Du wertvoll und liebenswert bist – und zwar genauso wie Du bist. Und dass Du in einer Beziehung Du selbst sein darfst, ohne Dich verbiegen zu müssen. Diese drei Tipps können helfen, Dich von Deiner Bindungsangst zu befreien oder besser mit der Problematik Deines Partners umzugehen:

Das glaubst Du Dir doch selbst nicht!? – Negative Glaubenssätze auflösen

Wie gesagt, haben viele Personen mit Bindungsangst schon in der Kindheit (falsche) Überzeugungen entwickelt, die sie oft ein Leben lang belasten. Um Deine negativen Überzeugungen aufzulösen, kannst Du zunächst all Deine limitierenden Glaubenssätze aufschreiben, zum Beispiel: „Ich bin nicht genug“. Dieser hat Dich vielleicht zu der Überzeugung gebracht, dass Du immer alles geben musst, um zu genügen und wahrscheinlich hast du ihn irgendwann auch auf Dein Beziehungsleben übertragen. Daher könnte die Aufforderung, die mitschwingt, lauten: „Gib immer 150 Prozent, um andere nicht zu enttäuschen!“ Schreibe die Aufforderung, die bei Deinem Glaubenssatz mitschwingt, neben den entsprechenden Satz.

Da es anstrengend ist, sich ständig mit solchen Aufforderungen konfrontiert zu sehen, gilt es nun zu schauen, welche Alternative für Dich möglich ist. An dieser Stelle darfst Du geduldig mit Dir sein. Sei Dir auch bewusst, dass jede Handlungsalternative ihren Preis hat und nicht immer so einfach umsetzbar ist (schließlich kannst und sollst Du Dich nicht komplett verändern oder verstellen). Wenn die Alternative sich zu krass für Dich anfühlt (z. B. immer alle Wünsche anderer kategorisch abzulehnen), mach Dich auf die Suche nach einer passenderen Alternative und schreibe auch diese auf. Anstatt immer 150 Prozent zu geben wäre eine Handlungsalternative: „Ich erkenne, wenn mir Bitten zu viel werden und sage es meinem Partner.“ Solltest Du das Gefühl haben, dass Du bei diesem Thema von jemandem begleitet werden möchtest, kann es nützlich sein, einen Coach oder Berater zurate zu ziehen. Dieser kann Dir weitere Methoden an die Hand gibt (z. B. Arbeit mit dem inneren Kind; gesunden Selbstschutz aufbauen oder lernen, Deine Bedürfnisse zu kommunizieren …).

Reden ist Gold

Wahrscheinlich überrascht es Dich wenig: Kommunikation ist der Schlüssel, damit eine Beziehung trotz bindungsängstlicher Partner eine Chance hat. Das heißt: reden, reden, reden. Beginnt Euch zu öffnen und dem anderen von Euren Ängsten zu erzählen. In der Regel ist es Deinem Partner gar nicht bewusst, dass Bindungsangst hinter Deinem Verhalten steckt. Andersrum kannst Du Deinen bindungsängstlichen Partner viel besser verstehen, wenn er sich öffnet und Dir seine Befürchtungen mitteilt. Auch hier kann es förderlich sein, einen professionellen Außenstehenden, wie einen Paarberater oder Therapeuten einzuschalten, der Euch hilft, an Eurer Kommunikation zu arbeiten.

Traumatische Erlebnisse in einer Therapie verarbeiten

Damit Bindungsangst entsteht, müssen keine schlimmen und traumatischen Dinge in der Kindheit passiert sein. Die meisten “Bindungsängstler” berichten von einer „ganz normalen“ Kindheit. Dass Deine Eltern sich so verhalten haben, wie sie sich verhalten haben und dass sich das auf Dein späteres Bindungsverhalten ausgewirkt hat, ist ihnen (und Dir) vermutlich nicht einmal bewusst. Doch es gibt auch Fälle, bei denen Bindungsangst auf traumatische Kindheitserlebnisse (Gewalt, Missbrauch, Vernachlässigung etc.) zurückgeht. In diesen Fällen ist es ratsam, die traumatischen Erfahrungen in einer Therapie zu verarbeiten.

 

Dozentin Cristina Sandner 

Über Cristina Sandner

Cristina Sandner ist systemischer Coach und Beraterin sowie Paarberaterin (ALH). Schon während ihres Studiums der Erziehungswissenschaften (1.Staatsexamen in Psychologie und Pädagogik) interessierte sie sich besonders für psychologische Fragestellungen. In ihrer Praxis in München begleitet sie Einzelpersonen und Paare bei ihrer persönlichen Weiterentwicklung und in Krisensituationen. Künftig wird Cristina auch als Dozentin im Paarberater-Lehrgang der ALH tätig sein. Lies Dir auch Cristinas Absolventenstory durch und bekomme einen Einblick in ihre Ausbildungszeit an der ALH. 

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